Auch wenn ich derzeit hauptberuflich im sozialen Bereich tätig bin und keine Spitzenkorsetts anfertige, vermittele ich weiterhin das Wissen über die hochwertige Verarbeitung und perfekte Passform an interessierte Fachpersonen. Vor wenigen Tagen stellte sich eine erfahrene und talentierte Damenschneiderin aus Deutschland der Herausforderung der Anfertigung eines Spitzenbustiers unter meiner Anleitung. In den drei Tagen, an denen wir zusammen arbeiteten, erzählte sie mir von ihrer grossen Sehnsucht nach den traditionellen Standards der Schönheit und Perfektion in unserem Kunsthandwerk. Obwohl sie sehr erfahren ist und die beste Nähtechnik beherrscht, durfte sie diese – als Angestellte in einem angesehenen Couture Atelier – nicht anwenden. Der finanzielle Druck zwang die Leitung des Ateliers zu Sparmassnahmen und es wurde allen Angestellten eine minderwertige Verarbeitung nahegelegt. Die lebenserfahrene und begeisterungsfähige Couturiere blühte im Verlaufe meines Kurses auf und erfreute sich über die Arbeit mit der kostbaren St.Galler Spitze von Forster Rohner und über jedes handgefertigte Detail.



„Schönheit – sagt der englische Philosoph Roger Scruton in seinem Film „Why Beauty matters?“ – stellt ein realer und universaler Wert dar, der in unserer rationellen Natur gründet. Der Sinn für Schönheit spielt eine unersetzliche Rolle in der Gestaltung des menschlichen Lebens und unserer Welt.“ In der individuellen Wahrnehmung besitzt das Schöne stets eine überzeugende Kraft, der wir uns nicht entziehen können. „Es spricht zu uns direkt wie die Stimme eines intimen Freundes. Wenn es Menschen gibt, die der Schönheit gegenüber gleichgültig sind, so ist es sicherlich weil ihnen das Wahrnehmungs-Sensorium dafür fehlt.“ Diese Hypothese von Scruton vermag den Schmerz erklären, den eine Person empfinden muss, wenn sie den tief verankerten Standards der Schönheit in ihrer kunsthandwerklichen Arbeit nicht folgen darf.
Wenn ich auf die zwanzig Jahre meiner Arbeit als Corsetiére zurückblicke, bin ich dankbar, dass ich mich zu keinen ästhetischen Kompromissen durch Sachzwänge verleiten liess. Es ist für mich auch nicht überraschend, dass bei mir die Liebe zu Schönheit auch in einem Persönlichkeits-Test, dem ich mich im Rahmen der neuen beruflichen Orientierung unterzogen habe, im obersten Rang erschien. Prof. Martin Seligman, der mit seiner Zusammenstellung der 24 Tugenden, die ein glückliches Leben ermöglichen, die Grundlagen zu diesem Test lieferte, betrachtet die Sensibilität für das Schöne und die Exzellenz als eine Stärke, die uns einer höheren Macht näherbringt und Sinn stiftet. Doch ist es vielen, die meine Arbeit und die ästhetische Kompromisslosigkeit bewundern, nicht bewusst, dass meine Tätigkeit in finanzieller Hinsicht stets ein Balanceakt war, der sehr viel Kraft erforderte. Der Sinn für das Schöne an die erste Stelle zu setzen bedeutet oft, in anderen Bereichen Kompromisse hinzunehmen.

Seit einigen Monaten bin ich im sozialen Bereich tätig und versuche das Handwerk, Kreativität und Ästhetik mit den psychologischen Themen zu verbinden. Meine Eindrücke, die ich in verschiedenen Institutionen gewinnen konnte, sind vielfältig. Sie reichen von den Begegnungen mit wahren Kunstwerken und Objekten, die sowohl den Herstellenden als auch den Betrachtern – selbst mitten in grossen Lebenskrisen – Freude bereiten, bis zum vollkommenen Verzicht auf das Ästhetische zu Gunsten reiner Funktionalität. Im letzteren Fall wird nur ein Ding hergestellt und nicht kreiert. Der Mensch wird zu einem Objekt, das beschäftigt werden muss, ohne die Möglichkeit zu haben, auf die Gestaltung der von ihm gefertigten Produkte Einfluss zu nehmen.
In vielen sozialen Einrichtungen werden insbesondere die mit Weiblichkeit assoziierten textilen Arbeiten nachlässig behandelt, während für die Holz- und Metallarbeiten, die meistens an Männer delegiert werden, stets höhere Qualitätsstandards gelten. In diesem Zusammenhang wurde ich einmal mit der Behauptung konfrontiert, dass das Ansehen der Schönheit und Qualität der textilen Produkte die Teilnehmer*innen unter Druck setzen würde, weshalb man auf die ästhetischen Aspekte in diesen Arbeiten lieber verzichte.

Diese Haltung widerspricht den bereits lange bekannten neurobiologischen Erkenntnissen, dass das Schönheitsempfinden mit der Aktivierung des genannten „Belohnungssystem“ zusammenhängt, zu dem sowohl der Nucleus accumbens sowie der entwicklungsgeschichtlich jüngere orbitofrontale Cortex gehört, der generell bei Entscheidungs- und Urteilsprozessen eine wichtige Rolle spielt und somit auch die Motivation beeinflusst. Neulich befasst sich die Neuroästhetik mit den Fragen nach den Zusammenhängen zwischen der Wahrnehmung der Schönheit und den entsprechenden Hirnaktivitäten. Die neuesten Forschungsergebnisse, die durch Neurobiologen aus dem Max Planck Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Mein vorgelegt wurden zeigen, dass wir beim betrachten von schönen Dingen – so die Ergebnisse der Bildgebenden Studie – angenehme Zustände erleben, weil dabei auch das so genannte Ruhezustand-Netzwerk im Gehirn aktiv wird. Was genau uns berührt, ob Natur, Kunst, Bauwerk oder Handwerk spielt dabei keine Rolle. Das Team vermutet sogar, dass es einen universellen Code für ästhetisch schönes Erleben geben könnte.

Auch wenn es noch eine Weile dauern wird, bis ich auch auf diesem Gebiet meine eigene Visionen verwirklichen kann, bin ich überzeugt, dass sich meine Liebe zum Handwerk und mein soziales Anliegen fruchtbar verbinden lassen. In der Zwischenzeit stehen allen Interessierten die Privatkurse im Korsett-Handwerk und Besuche in meinem Korsett-Kabinett offen und ich freue mich, wenn es mir gelingt, neben neuen beruflichen Verpflichtungen in der Arbeitsagogik, gelegentlich in die Welt der Korsetterie und Schönheit vorbehaltlos einzutauchen.
