Arbeitsagogik

Faden- und Nagelbild
Faden- und Nagelbild

Handgemachte Meisterwerke

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Basteln oder Arbeiten?

Als ich vor zwei Jahren das Kreativ-Atelier im Rahmen eines IV-gestützten Arbeitsintegrations-Programms in einer Stiftung im Kanton Zürich übernahm, war ich schon seit einiger Zeit im sozialen Bereich tätig. In den vorangegangenen Praktikas konnte ich kreative Projekte im Rahmen bestehender Konzepte führen und vereinzelt neue Ideen einbringen. Die Übernahme der Leitung eines Ateliers bedeutete eine neue, komplexe Herausforderung: es ging um ganzheitliche konzeptuelle Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten von psychisch beeinträchtigten Klienten und den Vorgaben und Erwartungen der Auftraggeber, die sich für ihre Klienten einen gelungenen Einstieg in eine Berufsausbildung und in das Arbeitsleben wünschen. Da es sich um ein junges Publikum mit schwierigen Lebensgeschichten handelte, war ich zudem mit sozialpädagogischen Aufgaben konfrontiert. 

Anfänglich bewegte ich mich inhaltlich im Bereich der Kunsttherapie und des Kreativitätscoachings, weil ich dachte, dass dies dem Selbstfindungsprozess der jungen Erwachsenen dienlich sein kann. Da der Grossteil der Klienten im Alter von 18-25 bereits mit klaren Interessen und ebenso klaren Abneigungen kam, konnte ich jedoch keinen nennenswerten Beitrag zur Weckung der berufsbezogenen Interessen leisten. Die bestehende Einrichtung des Ateliers liess vor allem Aufgaben im Bereich der Näherei und der bildnerischen Gestaltung zu und die freien kreativen Tätigkeiten in diesen Bereichen wurden von einigen der Klienten abwertend als «Basteln» bezeichnet. Dies veranlasste mich dazu, allmählich zu einem arbeitsagogischen Ansatz zu wechseln, wie ich ihn in Schriften von Brater und Wetzel vorfand. Dieser Ansatz wurde meiner Kern-Aufgabe, die in der Erfassung und Förderung der grundlegenden Arbeitskompetenzen liegt, besser gerecht. In meinem Atelier-Konzept berücksichtigte ich zudem einige Erkenntnisse der modernen Motivationspsychologie.

«Das Meer» -Acryl und Spachteltechnik, unter der Anleitung von Beata Sievi
«Das Meer» -Acryl und Spachteltechnik, unter der Anleitung von Beata Sievi

Für die Auswahl geeigneter, kreativer Projekte für das Atelier, übernahm ich eine zentrale Überlegung der modernen Arbeitsagogik, die besagt, dass eine Aufgabe nur dann ihre vollen rehabilitativen Möglichkeiten entfalten kann, «wenn sie nicht einfach basteln ist, sondern ernsthafte Arbeit, in dem Sinne, dass sie auf die Befriedigung von Bedürfnissen anderer Menschen zielt, dass sie damit gewissen Gebrauchs- und Qualitäts-Kriterien unterliegt und sich insgesamt vor anderen bewähren muss» (Brater, 2018). Ich setzte das Element der sozialen Verbindlichkeit und das Bestreben, ernsthafte Arbeit für andere zu leisten, an die erste Stelle und konnte daran den Unterschied von unserem Programm zu einer Beschäftigungstherapie festmachen.

Um diesem Ansatz gerecht zu werden, entwickelte ich Arbeitsprojekte, die Produkte hervorbringen, nach denen eine reale Nachfrage besteht. Zuerst wurden Artikel für den internen Gebrauch der Institution entwickelt, die entweder als Gebrauchsgegenstände die Arbeit der Angestellten erleichtern oder eine geschmacksvolle Einrichtung der Räume ermöglichen. So entwickelten sich z.B. unsere Notizblöcke zu einem beliebten Geschenk für unsere Angestellten und Geschäftspartner. Die, mit besonderer Technik gefertigten Acrylbilder, Fadenbilder und Quilts schmücken hingegen die Räume der Stiftung. Alle diese Projekte werden nach klaren technischen und qualitativen Kriterien ausgeführt, lassen aber in der Regel der ausführenden Person die freie Wahl gestalterischer Details z.B. im Bereich der Koloristik.

«Faden- und Nagelbild»
Faden- und Nagelbild
Watercolor Quilt – Fragment einer Arbeit entstanden unter Anleitung von Beata Sievi
«Watercolor Quilt» – Fragment einer Arbeit entstanden unter Anleitung von Beata Sievi
Skizzenblock aus Altpapier – Produkt entwickelt von Beata Sievi

Zu einem späteren Zeitpunkt ist es mir gelungen, Produkte zu entwickeln, nach denen auch auf dem externen Markt eine Nachfrage besteht und für die Kunden bereit sind, einen angemessenen Preis zu bezahlen. Auch hier war es mein Anliegen, die Produkt-Palette so zu gestalten, dass die Teilnehmenden zwischen verschieden Schwierigkeitsstufen und unterschiedlichen Materialien wählen können.

Auch wenn der Fokus im Atelier in der Ausbildung von Arbeitskompetenzen und nicht in der Rentabilität des Ateliers liegt, konnte mit den Verkaufsprodukten der wirtschaftliche Aspekt integriert werden – alle, die im Atelier arbeiten, werden in die Preisgestaltung miteinbezogen und sind dazu angehalten auf die Sparsamkeit beim Materialverbrauch und die Effizienz der Arbeit zu beachten. Zudem wurde durch die Wiederverwertung der gebrauchten Materialien wie z.B. Jeans und Altpapier die Reflexion über eigene Konsumhaltung und das Umweltbewusstsein angeregt. Da unsere Produkte an keine Lieferfristen gebunden waren, konnte ich jedem genügend Zeit für die sorgfältige Anfertigung geben.

Jeans-Tasche - Produkt entwickelt von Beata Sievi
Jeans-Tasche – Produkt entwickelt von Beata Sievi
Jeanstasche mit individuellen Verzierungen
Jeanstasche mit individuellen Verzierungen

Motivation als Kompetenz

Anfänglich befürchtete ich, dass die Projekte mit ihrem Qualitäts-Anspruch für mein junges Publikum zu schwierig sein können, doch die sorgfältig von mir vorbereiteten Anleitungen in Bild und Schrift haben sich als hilfreich erwiesen. Zu dem machte ich mir Erkenntnisse der Motivationspsychologie zu nutzen, die meine Annahme stützten, dass es sinnvoller sei, alle notwendige Unterstützung zu erfolgreicher Bewerkstelligung der Aufgabe zu liefern als die Qualitäts-Ansprüche zu senken. Nur wenn ein Arbeitsauftrag eine bestimmte Herausforderung darstellt, hat er Chancen, Interesse zu wecken und seine Bewältigung kann mit Stolz und Zuwachs an Selbstwertgefühl einhergehen. Um dies zu begünstigen, setzte ich bewusst Feedback ein, das Erfolge vor allem auf Anstrengung zurückführt und erst in zweiter Linie auf Fähigkeiten. Bei Personen, die selbst mit guten Resultaten nicht zufrieden sind und leiden, wenn sie das Gefühl bekommen, ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen zu müssen, deklariere ich die Aufträge eher als Lerngelegenheit, womit der subjektiv empfundene Druck deutlich verringert werden kann. (Spinath, 2018)

Auch bei jungen Erwachsenen, die zu den Aktivitäten im Atelier überhaupt nicht intrinsisch motiviert sind, leisten klare Arbeitsaufträge einen grossen Nutzen. Die Fähigkeit, sich auf Aufgaben einzulassen, die man nicht als spannend oder interessant empfindet und sie als einen notwendigen Schritt zur Erreichung längerfristiger Ziele zu akzeptieren, hat mit Selbstregulation zu tun und ist zentral für eine erfolgreiche Berufsausbildung. (Frick, 2018)

Reissfrosch

Passend zu meinen eigenen Fach-Qualifikationen arbeiten wir im Atelier vorwiegend im Bereich der Näherei, Papierverarbeitung und Acrylmalerei. Es sind Aufgaben, bei denen auch ohne langes Einüben gute Ergebnisse erzielt werden können. Es scheint mir, dass der Eingliederungszweck in dieser Altersstufe (16-25) besser erreicht wird, wenn die erwarteten Fähigkeiten eine alltägliche, normale Geschicklichkeit erfordern, – damit bleibt das Erwerben des Fachwissens der nachfolgenden Berufsausbildung vorbehalten.

Topfuntersetzer – Produkt entwickelt von Beata Sievi
Topfuntersetzer – Produkt entwickelt von Beata Sievi

Mit Strategie zum Erfolg

Ein Arbeitprojekt wird von mir immer in Absprache mit einem Klienten jeweils so ausgewählt, dass es bestimmte Kompetenzen bewusst fördert bzw. Herausforderungen vermeidet, wenn die Gefahr einer Überforderung besteht. Grundsätzlich sollen die im Atelier arbeitenden Personen mit drei Produkten, die für den Verkauf gedacht sind, starten, wobei sie aus mehreren unterschiedlichen Produkten wählen können. In einem weiteren Schritt dürfen Projekte für den internen Gebrauch realisiert werden, welche mehr Raum für eigene gestalterische Ideen zulassen.

Collaborativ Art Project – «Was ist dir wichtig im Leben?»
Collaborativ Art Project – «Was ist dir wichtig im Leben?»

In unserem Programm begegne ich oft jungen Menschen, die im Übergang zwischen Schule und Berufsbildung stehen, denen eine Tagesstruktur fehlt und die gelegentlich einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik hinter sich haben. Ihr Leben spielt sich somit zeitweise ausserhalb des sonst geltenden gesellschaftlichen Rahmens ab. Die von Brater vorgeschlagene Definition der psychischen Beeinträchtigung als Verminderung der Fähigkeit zu selbständigem, selbstbewusstem Handeln in Bezug auf die einzunehmenden Rollen in der Gesellschaft trifft auf sie oft zu. Dies zeigt sich gelegentlich in einer starken Selbstbezogenheit, emotioneller Instabilität und mangelnder Motivation für Projekte ohne unmittelbare Gratifikation. Aus diesem Grunde habe ich auch die dritte Kategorie der Projekte erarbeitet – die an wenige Qualitätskriterien gebunden ist und einen grossen freien Raum für eigene Entscheidungen einräumt. In diese Gruppe gehören z.B. kollaborative Kunstprojekte wie z.B. Puzzle Projekt, Zentangle oder «Mixed-Media» Projekte. Der gelegentliche Einsatz dieser Projekte soll helfen, Interessen für eine handwerkliche oder kreative Tätigkeit zu wecken und die Motivation für ein Programm zu stärken. Zudem steht allen, die die vorgegebene Zahl der Produkte geliefert haben, ein Eigenprojekt als eine Option zur Verfügung, nämlich Anfertigung eines Gegenstands für den Eigengebrauch. Die Voraussetzung dafür ist das Vorlegen eines schriftlichen Plans und das selbständige Arbeiten. Die Tatsache, dass das Eigen-Projekt nur selten in Anspruch genommen wird, zeigt, dass das geschickte Einbinden der Autonomie in die vorgegebenen Projekte genügt, um die Motivation zu wecken und dass viele Jugendliche für die Produktion von sinnvollen Artikeln mit einem klaren Adressat und einer überzeugenden Ästhetik gewonnen werden können.

Necessaire, ein geeignetes Produkt für Verkauf und für Eigenbedarf, Entwurf Beata Sievi
Necessaire – ein geeignetes Produkt für Verkauf und für Eigenbedarf, Entwurf Beata Sievi
Sebstgebundenes Kunstjournal als Altpapier und antiquarischen Kunstdrucken, Projekt im Rahmen der TTG Weiterbildung
Sebstgebundenes Kunstjournal als Altpapier und aus antiquarischen Kunstdrucken, Projekt im Rahmen der TTG Weiterbildung

Welche Projekte eigenen sich für die Arbeitsagogik?

Die starke Entwicklung der DYI Bewegung und unzählige kreative Projekte, die in sozialen Medien zu finden sind, bringen eine Gefahr mit sich, beliebige Projekte ins Programm integrieren zu wollen. Um zu prüfen, ob ein Projekt der erforderlichen Charakteristik für einen Arbeitsauftrag entspricht, stütze ich mich daher auf das «Schema der Acht Stufen» von Brater. Demnach soll jedes Projekt eine aktive Teilnahme an jeder der acht Phasen ermöglichen: Entdecken der Aufgabe, Planen, Sich zur Tat entschliessen, Ausführen, Prüfen, Korrigieren, Abschliessen und Auswerten. Diese Kriterien sind kompatibel mit dem laut Lehrplan 21 bereits in der Schule geforderten mehrstufigen Aufbau der Aufgaben im Bereich von Technik und Design. Diese umfassen die folgenden Etappen: Sammeln und Ordnen, Experimentieren und Entwickeln, Planen und Herstellen, Begutachten und Weiterentwickeln, Dokumentieren und Präsentieren. (Stuber, 2021).

Jeansquilt als Wanddekoration

Die Aufgabe, im Rahmen eines Brücken-Angebots junge Erwachsene im Übergang zwischen der Schule ins Berufsleben zu begleiten, bleibt eine kontinuierliche Herausforderung. Mein Leitsatz entnehme ich dem Grundwerk der Arbeitsagogik von Brater: «Es gibt kein besseres Mittel zur beruflichen Rehabilitation als gezieltes, sinnerfülltes Tun.» 

Lavendelherz – Weihnachtsgeschenk für Freunde

In folgenden Beträgen erfahren Sie mehr über die einzelnen Projekte:

«Jeder Anfang ist schwer – Jeans-Quilting in Progress»

«Watercolor Quilt – Fliessende Farbübergänge im Stoff».


Literatur:

  • Brater Michael: Eingliederung durch Arbeit, 2018 Verlag am Goetheanum
  • Stuber Thomas: Technik und Design, Stuber 2021
  • Frick Jörg; Die Droge Verwöhnung, Hogrefe 2018
  • Spinath B., Dickhäuser O., Schöne C: Psychologie der Motivation und Emotion, Hogrefe 2018